Woran Anleger sich jetzt erinnern sollten
von Max Otte
Der aktuelle Krimi in Italien zeigt uns, liebe Leser: Die seit nunmehr 10 Jahren anhaltende Finanz- und Schuldenkrise ist noch lange nicht ausgestanden. Wenn Italien am Euro schraubt, dann sind die letzten Tage des Euro eingeleitet. Italien hat die größten absoluten Staatsschulden in der Eurozone. Ein Austritt Griechenlands und Portugals wäre zu verkraften, nach einem Austritt Italiens wäre der Euro tot. Und das darf nicht sein.
Dabei sah es in den letzten Jahren doch gar nicht so schlecht aus, oder?
Positive
Unternehmens- und Wirtschaftsdaten dominierten die Nachrichten.
Auch
die Politik kehrte zunehmend zum Tagesgeschäft zurück. Die Rufe
nach einer effektiven Regulierung der Finanzmärkte wurden immer
leiser. Und auch die einst zarte aber vernehmbare Selbstkritik der
Ökonomen war kaum mehr zu hören.
Doch dies alles war nichts weiter als eine Fata Morgana
Eine wichtige
Rolle in diesem Schauspiel haben auch die Ökonomen übernommen.
Dabei sind ihre Vorhersagen immer mit sehr hoher Unsicherheit
behaftet. Der Normalfall ist, dass die ökonomische Entwicklung
nicht
prognostiziert werden kann. Es gibt viele Belege dafür, dass die
Prognosen der Realität der Wirtschaft hinterherlaufen. Zudem
handelt
es sich bei Krisen um gesellschaftliche Phänomene, die
entscheidend
durch die Erwartungen und Handlungen der Akteure geprägt werden.
So
könnten Prognosen zu ihrer eigenen Ungültigkeit führen.
Die Finanzkrise
2008 ist durch ein System der organisierten
Verantwortungslosigkeit
ausgelöst worden, bei dem zumindest im Ursprungsland USA die
Grundsätze soliden Finanz- und Rechtsgebarens flächendeckend
ausgehebelt waren. Es lassen sich mindestens neun Gruppen von
Akteuren ausmachen, die in der Krise eine Rolle gespielt haben.
Alle
haben massive Verantwortung für diese Krise auf sich geladen.
Notenbanken
Die
amerikanische
Federal Reserve Bank hing seit der 18-jährigen Amtszeit von Alan
Greenspan der Doktrin an, dass sich durch die Ausdehnung der
Geldmenge und künstlich niedrig gehaltene Zinsen
Wirtschaftswachstum
fördern ließe. Eine solche Politik bestraft Sparer und lädt zur
Kreditaufnahme für riskante Projekte geradezu ein. Da die Dynamik
der US-Wirtschaft nach 2001 insgesamt nachließ, suchte sich das
viele Geld ungesunde Wege. Diese fand es, indem eine solide
Anlageklasse, deren Preise in den vergangenen Jahrzehnten
scheinbar
unaufhaltsam gestiegen waren, zur „größten Spekulationsblase“
der Geschichte missbraucht wurde: Wohnimmobilien. So entstand ein
Kartenhaus von Krediten, gefördert durch verbriefte Produkte, bei
denen Kredite nicht in den Büchern der Banken gehalten, sondern –
zu Wertpapieren umfunktioniert – weiterverkauft wurden.
Investmentbanken
Das
Geschäftsmodell der Investmentbanken beruht darauf, dass sie
Transaktionen oder Börsengeschäfte strukturieren, bei denen sie
eine Kommission erhalten, zum Beispiel Fusionen und Übernahmen,
Emissionen von Aktien und Anleihen, Börsenhandel auf eigene
Rechnung
und die Emission von verbrieften Schulden und strukturierten
Produkten. Da die emittierten Produkte nicht oder nur zu einem
sehr
kleinen Teil in den Bilanzen bleiben, übernehmen Investmentbanken
keine mittel- oder langfristige Verantwortung für die Konsequenzen
ihrer Transaktionen.
In den Jahren
von
2002 bis 2006 wurde die Verbriefung von Hypothekenkrediten zur
größten einzelnen Gewinnquelle der Investmentbanken. Die
Verbriefung von Krediten ist an sich ein durchaus sinnvolles
Finanzprodukt: Ein Kredit wird durch einen Vermögensgegenstand
hinterlegt und dann als Wertpapier an der Börse handelbar gemacht.
Nicht das „Ob“, sondern das „Wie“ ist entscheidend. Mit dem
deutschen Pfandbrief gibt es zum Beispiel ein verbrieftes Produkt
höchster Seriosität, das seit mehr als hundert Jahren hervorragend
funktioniert.
Politik in den USA
Sowohl
Demokraten
als auch Republikaner haben die Förderung des Wohneigentums zu
zentralen Punkten ihrer Politik gemacht. Da aber die direkten
staatlichen Subventionen begrenzt waren, zwang man die Banken,
auch
riskante Kredite in einkommensschwachen Gebieten (Slums) zu
vergeben,
selbst wenn dort die Gefahr von Zahlungsausfällen höher war. Die
US-Politik hat die Vergabe von unseriösen Krediten keinesfalls
gebremst, sondern massiv gefördert. Als nach 2004 am
Immobilienmarkt
das ungebremste Spekulationsfieber grassierte, trauten sich weder
Demokraten noch Republikaner, politisch einzuschreiten.
Hypothekenbanken in den USA
In den USA
werden
Hypothekenkredite grundsätzlich anders als in Deutschland
vergeben.
Viele Hypothekenbanken agieren quasi nur als Vertriebs- und
Genehmigungsinstitut: Sie nehmen die Kundendaten auf und warten
darauf, dass ihnen eine andere Bank im Hintergrund den Kredit
abkauft, bevor sie ihn genehmigen. Bei dieser Struktur des
Kreditsystems haben die regionalen Hypothekenbanken (die man
eigentlich Hypothekenvermittler nennen sollte) wenig Anreiz, auf
die
Qualität der Produkte zu schauen. So ist es nicht verwunderlich,
dass die Hypothekenbanken diesem Wunsch nachkamen und Kredite
„produzierten“, und zwar mit immer unseriöseren Methoden und mit
immer schlechteren Standards.
Hauskäufer in den USA
Natürlich hätten
die amerikanischen Hauskäufer nicht mitspielen und zu Spekulanten
werden müssen. Allerdings gibt es einen deutlichen Unterschied zum
deutschen Rechtssystem: Wenn amerikanische Hypothekenschuldner
zahlungsunfähig werden, haften sie lediglich mit der Immobilie,
nicht mit ihrem gesamten Einkommen. Sie können also „den Schlüssel
abgeben“ und sind ihre Schulden los. Zwar ist die Kreditwürdigkeit
dann erst einmal ruiniert, aber es gab (und gibt) ja Subprime
Loans,
bei denen die Kreditwürdigkeit keine Rolle spielt.
Ratingagenturen
Das Rating von
Wertpapieren wird von drei großen angelsächsischen Agenturen
dominiert: Moody’s, Standard & Poor’s und Fitch Ratings.
Diese Agenturen machten von 2002 bis 2006 ein Drittel ihrer
Gewinne
damit, dass sie sich von den Emittenten der verbrieften Produkte
dafür bezahlen ließen, diese zu bewerten. Hier ist ein eklatanter
Interessenkonflikt gegeben. So war es erklärbar, dass viele
verbriefte Produkte äußerst minderwertiger Qualität ein AAA-Rating
bekamen.
Wirtschaftsprüfungsgesellschaften
Im Prinzip ist
es
bei den großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften ähnlich. Mir ist
kein Fall bekannt, bei dem eine große
Wirtschaftsprüfungsgesellschaft vor Ausbruch der Krise einer
größeren amerikanischen Gesellschaft das Testat für den
Jahresabschluss versagt hat. Letztlich haben die Gesellschaften
die
Praktiken der Banken, Ratingagenturen und Hauskäufer sanktioniert.
Internationale Politik und nichtamerikanische Banken
Nach dem Jahr
2004 haben zunehmend auch internationale Investoren, vor allem
Banken
und Versicherungen in Europa, dazu beigetragen, dass die Blase
nicht
in sich zusammenfiel. Zwar liegen keine genauen Zahlen vor, aber
es
gibt Hinweise darauf, dass Investoren in Europa einen
signifikanten
Anteil der riskantesten Produkte kauften.
Und zu guter Letzt: die Ökonomen
Obwohl die Exzesse der Blase schon in den Jahren 2004 und 2005 von der amerikanischen Presse beschrieben wurden, schwiegen die Ökonomen, zumindest die an anerkannten Universitäten und in den Forschungsinstituten. Kaum jemand traute sich an das „heiße Eisen“ der Immobilienblase heran, obwohl diese deutlich erkennbar war.
Was können wir Anleger daraus lernen?
Krisen beginnen in der Phase der größten Euphorie, Aufschwünge in der tiefsten Niedergeschlagenheit. Der Boom vor der Krise 2008 dauerte fast ein Vierteljahrhundert an. Zweieinhalb Jahrzehnte eines halbwegs stabilen Aufschwungs, halbwegs stabilen Geldes und fallender Zinsen hatten dazu geführt, dass die meisten Menschen, die aktiv am Wirtschaftsleben teilnahmen, keinerlei Erinnerung mehr daran hatten, dass es auch andere Zeiten geben kann.
Aber Krisen
werden immer in einem Zeitalter der Euphorie und des Optimismus
geboren. Wenn die Menschen anfangen zu glauben, dass der
Konjunkturzyklus endgültig besiegt sei (oder die Malaria oder die
Pest), werden sie früher oder später eines Besseren belehrt. Dabei
wird die Stimmung in der Wirtschaft und an der Börse meistens nur
von den Verhältnissen bestimmt, die in den letzten zwei, drei
Jahren
vorherrschten. Bewusst oder unbewusst denken die meistens
Menschen,
dass es so weitergehen wird wie in den letzten Jahren.
Gut ließ sich
dieses Verhalten auch nach dem Platzen der Technologieblase im
Jahr
2000 beobachten. 2001 und 2002 kauften Privatanleger verstärkt
noch
einmal kräftig „billige“ Aktien ein, nur um zu sehen, wie es
noch weiter nach unten ging. 2003 und 2004 gaben dann viele
entnervt
auf und verkauften ihre Aktien, gerade als der DAX drehte und
traumhafte Gewinne zu machen waren. Und erst in der zweiten Hälfte
2005 begannen die Privatanleger zurückzukehren.
In einer
Rezession werden auch solvente Kreditnehmer oder gute Projekte
keinen
Kreditgeber finden, weil die Grundstimmung pessimistisch bis
verzweifelt ist. Im Boom werden viele, auch schlechte Kredite
vergeben, weil Optimismus und Euphorie vorherrschen. Gegen Ende –
wenn der Boom in seine manische Phase übergeht – beginnen die
Menschen dann zu glauben, dass der Wirtschaftszyklus abgeschafft
sei.
Das verführt sie dazu, Investitionen mit Geld zu tätigen, das sie
nicht haben. Sie investieren in Unternehmen und Wertpapiere, die
nur
überleben können, wenn sich der Boom endlos fortsetzt. Sie
arbeiten
für Firmen, die schon eine kleinere Krise umwerfen würde. Ökonomen
nennen das „Fehlallokation von Kapital“. Je länger sich diese
Fehlallokation von Kapital fortsetzt, umso größer muss nachher die
Bereinigung ausfallen. Die Investments, Arbeitsplätze und
Unternehmen, die nur in einer perfekten Welt existieren können,
müssen verschwinden, um Raum für neues, für gesundes Wachstum zu
schaffen.
Die Finanzkrise ist mit Sicherheit noch lange nicht vorbei
Die Krise ist
die
Konsequenz eines Systems, in dem der Schnelle den Langsamen und
der
Starke den Schwachen frisst. Dieses System ist das Gegenteil
dessen,
womit sich Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
und wieder nach 1945 seinen führenden Rang unter den
Industrienationen gesichert hat: eines solidarischen Systems, in
dem
es sowohl Recht auf Solidarität als auch Pflicht zur Leistung gab.
Viel müsste
passieren, dass wir wieder zu einem System zurückkehren, für das
Ludwig Erhard, Alfred Müller-Armack, Wilhelm Röpke und Alexander
Rüstow standen und das unter dem Namen „Soziale Marktwirtschaft“
in der ganzen Welt bewundert und respektiert wurde. Zunächst
einmal
müsste die Herrschaft der Finanzoligarchie gebrochen werden und
die
Politik wieder anfangen, eigene Konzepte zu entwickeln, statt sich
als verlängerter Arm der Konzerne gegen die Bürgerinnen und Bürger
zu wenden. Die Erkenntnis, dass es fünf nach zwölf ist, wäre ein
Anfang.
Aber wir sind ja
nicht nur Teil des politischen Systems; viele von uns haben eine
berechtigte Sorge um ihre Ersparnisse. Wir wissen, dass wir den
Versprechungen der Politik zur Sicherheit der Renten und zur
Stabilität der Verhältnisse nicht trauen können, und fragen uns
doch oft, was unter diesen Umständen zu tun ist.
Angst und Panik sind keine guten Ratgeber!
Es ist wichtig,
dass Sie, werte Anleger, den Unterschied zwischen Geld- und
Sachwerten verstehen, nicht auf Finanzdienstleister und ihre
Versprechungen hereinfallen, Ihre eigene Strategie entwickeln und
diese dann durchhalten.
Und bei all den
politischen Turbulenzen bleiben Qualitätsaktien Qualitätsaktien.
Wenn Sie sie günstig kaufen können, dürfen Sie zuschlagen. Aktuell
ist das bei einigen Schwergewichten aus dem Konsumgüterbereich der
Fall, aber auch bei manchen Wachstums- oder Deep-Value-Titeln.
Turbulente Märkte sind zunächst einmal genau das: turbulent. Und
das ist gut für Stockpicker wie uns.
Auf gute
Investments,
Ihr
Max Otte
powered by stock-world.de